„Dunkel Nacht“ und Depression

Autor: R. Bäumer; M. Plattig
Kurzbeschreibung von: Dr. Mag. Michael Leputsch

In dem Band, der die Beiträge einer Tagung zum Thema dokumentiert, geht es um die Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit beider Phänomene und die Konsequenzen für therapeutische und seelsorgliche Praxis.

1. Psychodynamik der Depression und Achtsamkeit

Das Phänomen der Depression findet sich in der Literatur von Homer heraus über die biblischen Bücher des Alten Testament, auch wenn der Begriff erst im 19. Jh. geprägt wurde.

Im antiken Griechenland wurden depressive Zustände mit einem Übermaß oder Erkalten der schwarzen Galle in Zusammenhang gebracht und „Melancholie“ genannt ein biologisches Verständnis

Spätere Bezeichnung sind im Mittelalter „akedia“ ein psychodynamisches Verständnis in religiösem Kontext; zu Beginn der Neuzeit „Schwermut“ und neuerdings „monopolare oder bipolare affektive Störungen“

Auch die Dunkel Nacht der Mystiker und spirituelle Krisen umfassen depressive Zustände – vor allem geht es hier um einen Läuterungsprozess auf dem Weg zur Erleuchtung.

Depression wird als mehrschichtiges Geschehen beschrieben. Es umfasst eine psychologische Dimension in Form von Niedergeschlagenheit und Antriebs- und Aktionshemmung; Veränderungen im Gehirn in Form von vermehrter Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, Abfall von Botenstoffen, Veränderung der Hirnaktivität und psychomotorische Störungen; Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation.

Depression bedarf der medikamentösen, therapeutischen und ev. seelsorglichen Begleitung, immer im Wissen um die begleitenden körperlichen Vorgänge.

Gleich mit welcher therapeutischen Methode – ob mit klassischer Psychoanalyse, kognitiver Verhaltenstherapie oder interpersoneller Therapie immer ist die Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Klient entscheidend: warme, wertschätzende, angstfreie Beziehung; positive Erwartungen von seiten des Therapeuten; Therapeut als Modell; empathischer Umgang mit Frustrationen.

Die Hauptschwierigkeit dabei liegt im gehemmten Interaktions- und Kommunikationsverhalten depressiver Menschen. Der Begleiter gehört mit zum depressiven System, ohne dass die depressive Person dies beabsichtigt. Umso wichtiger ist Supervision und vorübergehende Deprimiertheit als Begleiter zu akzeptieren und sich selbst nicht in Frage zu stellen.

Entscheidend ist die Achtsamkeit gegenüber den eigenen Empfindungen und Gedanken – sowohl als Therapeut wie auch als Klient.

Achtsamkeitsbasierte Therapie

Hauptziel: frühes Erkennen deprimierender Gedanken und Vorstellungen; negative Gedanken wahrnehmen ohne zuzustimmen

Haupttechniken: Selbstbeobachtung; Deidentifikation mit Gedanken und Affekten; Achtsamkeitsübungen

Selbstsorge

Hauptziel: keine ängstliche Sorge um den eigenen Vorteil; kluge Sorge um die Seele Exerzitien als Mittel: Wachsamkeit gegenüber Gedanken; Meditation, Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit; Askese, Konzentration

Depressive Menschen werden durch Aufforderung zu Achtsamkeit und Selbstsorge noch mehr belastet. Entscheidend ist vielmehr das Abschiednehmen von Unerreichbarem und ein Aufbruch, wenn auch wider Willen und ohne bekanntes Ziel. Es geht um ein neu zu gewinnendes Innewerden seiner selbst.

2. Nachterfahrungen

Das göttliche Dunkel

Gott ist für den Menschen unbegreiflich, unsagbar und unverfügbar. Die Erfahrung Gottes ist ein Innewerden von eigener Art. Die Mystik spricht vom göttlichen Dunkel, in dem Gott im Nichterkennen erkannt wird. Dieser Prozess bezieht den Menschen mit seiner ganzen Existenz ein und bedeutet völlige Dunkelheit und Nichtwissen.

Die Nacht des Glaubens

Johannes Tauler beschreibt drei Phasen des Glaubensweges: Jubel – Bedrängnis Überfahrt. Jubel ist die erste Erfahrung der Vereinigung mit Gott. Dem folgt die Erfahrung der Bedrängnis, in der alles bislang Wichtige an Geschmack und Bedeutung verliert. Zweifel an der Existenz Gottes brechen auf. Dies ist eine Phase der Läuterung und Bewährung. Daraus erwächst die dritte Phase, ein neues Vertrauen auf Gottes Gegenwart, innerer Friede und Freude.

Johannes vom Kreuz beschreibt die dunkle Nacht als schmerzhaftes, aber läuterndes Liebeshandeln Gottes. Der Mensch findet in Gott und sich selbst keinen Halt und fühlt sich verlassen.

Johannes unterscheidet die Nacht des Sinnes und die Nacht des Geistes und gliedert jede in 3 Phasen: Anbruch der Nacht, Mitternacht, Morgendämmerung. Bedrängnis und Vertrauen gehören dabei zusammen. Johannes spricht von einem bleibenden Erkennen in der Erfahrung der Nacht. Der Mensch wird dabei im Gott überformt Johannes spricht von Transformation.

Die Gemütsverfassung allein lässt keine Unterschied erkennen. Entscheidend ist die Dynamik der Erfahrung.

Die Dunkle Nacht ist als ein läuterndes Geschehen zu begreifen, weg vom menschlichen Tun hin zu Empfangen und Vertrauen. Einhellig wird die verborgene Nähe Gottes in der Erfahrung der Nacht betont.

Leid und Atheismus

In der Neuzeit wird Gott für das menschliche Leid verantwortlich gemacht. Am deutlichsten wird das bei Nietzsche, der den Tod Gottes verkündet, welcher den Menschen im Nichts umherirren lässt. In der Mystik der Neuzeit wird die Erfahrung der Nacht als entsetzliche Leere geschildert, als Nichterfahren Gottes.

Dunkle Gedanken

In der frühchristlichen Überlieferung spielen die „8 Gedanken“ eine wesentliche Rolle, zu denen Traurigkeit (Niedergeschlagenheit der Seele) und Überdruss (LebensEkel) zählen. Diese sind Teile jeden Lebens und werden mit Dämonen in Verbindung gebracht. Für den Umgang damit werden unterschiedliche Strategien angeboten: Wahrnehmung und Beobachtung; den Gefühlen Raum geben; der Einsamkeit standhalten.

Das Geheimnis der Verwandlung

Aus dem Glauben an die Auferstehung Jesu lässt sich folgendes festhalten: die menschliche Leiderfahrung ist nicht das Letzte,das Letzte ist die Liebe Gottes, die den Menschen auferweckt und wie Jesus verwandelt.

Die Gemeinschaft mit Gott bewahrt den Menschen nicht vor dem Leid, aber im Leid.

3. Vom Umgang mit der Dunkelheit in der geistlichen Begleitung

Zu einem spirituellen Weg im christlichen Sinn gehören wesentlich zwei Entwicklungskrisen.

Die „Nacht der Sinne“ ist die Zeit, in der der erste Schwung auf dem Glaubensweg erlahmt, Gebet erscheint sinnlos, Trockenheit und Leere stellen sich ein. Diese Erfahrung wird die Seele davon gereinigt, Glauben nur zur Selbsterfüllung zu leben. Entscheidend in der Begleitung ist, abzuklären, ob im Hintergrund eventuell

Krankheiten, Depression oder alte Muster stehen. Ist dies nicht der Fall, muss der Begleiter helfen, die spirituelle Reise fortzusetzen und einen empfangenden, kontemplativen Weg der Erleuchtung zu beschreiten.

Die „Nacht des Geistes“ besteht in dem Zweifel, dass Gott den Menschen in seiner Unbedeutendheit und Sündhaftigkeit überhaupt lieben könne, und der Angst, Gott für immer zu verlieren. Diese Erfahrung reinigt von unbewussten Fixierungen, unangemessenen Vorstellungen von Gott und falscher Selbstwahrnehmung.

Vom Begleiter ist hier einfühlende Unterstützung verlangt, Empathie ohne Ratschläge zu geben. Er muss abklären, ob es sich nur um spirituelle Dunkelheit oder auch eine klinische Depression handelt. Dann ist entsprechende therapeutische Begleitung neben der spirituellen angesagt.

4. Depressiv oder Problemsensibel?

Problemsensibilität bedeutet, dass ein Mensch alles aus der Perspektive des Schwierigen betrachtet. Entscheidungen werden schwierig, die Handlungsoptionen eingeschränkt, Körper und Seele erstarren. Dies führt bis zur klinischen Depression. In der Begleitung solcher Prozesse gilt es, die eigene Resonanz darauf bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren.

Als alltägliches Denk- und Fühlmuster ist Problemsensibilität leicht zu erkennen. Anders in Verengungszeiten. Hier ist die Distanznehmen zur eigenen Situation kaum mehr möglich. Hilfreich kann hier das Zurückgehen an den Anfang der Situation sein. Ein wichtiger Weg der Wechsel vom Verstand zur Körperwahrnehmung Atemübungen, Ausprobieren anderer Körperhaltungen, Bewegung im Freien.

Wichtig ist die Entlastung von Disziplin, Veränderungsstress Anstrengungen und Verpflichtungen. Hilfreich ist der Blick auf das, was noch möglich ist und dieses bewusst zu tun; die Vorstellung der Depression als Rhythmusstörung; Besinnung auf das körperliche Lebens und Natur; Elemente der Körpertherapie.

Entscheidend ist somit die Selbstwahrnehmung und das existentielle Lernen von Neuem sowie das Erlernen und Ausprobieren von Alternativen und Wahlmöglichkeiten.

5. Herausforderungen einer Seelsorge mit depressiven Menschen

Das Thema wird anhand dreier Fragen erörtert:

Wie geht es Ihnen im Kontakt mit depressiven Menschen?

Begegnungen mit Depressiven strengen an, oft kommt es zur Übertragung des depressiven Gefühl auf den Begleiter, was zu Erstarrung bzw. Ungeduld führen kann. Hilfreich sind hier für den Seelsorger Abgrenzung, Selbstsorge und Kontakt. Zeitbegrenzung im Gespräch und das Vertrauen in einen Prozess, der dauert, sind erforderlich.

Was ist das Spezifische der Seelsorgerrolle?

Zentralbegriff ist hier die Stellvertretung: stellvertretend für den Depressiven hoffen und beten, was zu einer positiven Übertragung führen kann. Achtsamkeit der Sprache gerade bei Depressiven auftretende Schuldgefühle, die nichts mit persönlicher Schuld zu tun haben.

Schnittstellen zwischen therapeutischer und seelsorglicher Arbeit bieten Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung.

Depressive Menschen in der Pfarrgemeinde

Depressive werden aufgrund von Vorurteilen, Ängsten, Scheu und Unsicherheit leicht gemieden. Dabei kann die christliche Nächstenliebe auch in kleinen Dingen einen „Türöffner“ hinein in das Leben einer Pfarrgemeinde bieten.

6. Klagend beten? Das Gebet und die Klage

Gebet als Klage erinnert Gott an die in der Bibel zugesagte Treue in Krisenzeiten (siehe die Psalmen; Klagelieder; Hiob). Dabei geht es nicht um Erklärungen für das Leid, das Gebet bindet den Menschen vielmehr ein in die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk.

Klage ist das Gebet der Dunklen Nacht, wo der Mensch sich loslässt in Gott hinein.

5 . Dunkle Nacht und Depression – Zusammenschau

Zu beidem gehören Traurigkeit, Lähmungsgefühl, Müdigkeit, Schwere, Blockierung des Willens, Verlusterfahrungen.

Unterschiede:

Die Dunkle Nacht ist Wesentlicher Bestandteil eines spirituellen Weges als Transformation und nicht behandelbar. Der Alltag wirkt hier stabilisierend, nach außen hin gibt es keine Kennzeichen.

Depression ist definitiv nicht der Normalfall des Lebens und als Krankheit zu behandeln. Die Unfähigkeit, den Alltag zu bewältigen drückt sich auch mimisch, gestisch und körperlich aus.

Nicht jede Krisenerfahrung ist eine dunkle Nacht, ebensowenig muss jede psychische Krankheit eine Dunkle Nacht sein.

Freilich kann auch beides zugleich auftreten und ist dann differenziert zu betrachten und von beiden Seiten her zu bearbeiten.

Nochmals betont wird die Aufmerksamkeit für das Gegenüber und die Wahrnehmung der eigenen Reaktionen. Die Herausforderung der Begleitung liegt darin, der Dynamik und dem Wachstumsimpuls entsprechend mit Menschen auch in Krisensituationen unterwegs zu sein und zu bleiben.

Psychosoziale Fachliteratur

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