Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Er befasst sich mit der geistigen Entwicklung von Kindern unter dem Forschungsschwerpunkt „Rehabilitationspsychologische Diagnostik“. Seit Anfang 1994 leitet er eine Beratungsstelle für Eltern, Erziehende, Lehrende in pädagogischen Einrichtungen sowie Menschen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten. Aus dieser Tätigkeit sind zahlreiche Projekte der Spieldiagnostik und Spielförderung entstanden, die auch der Überwindung von Lernschwierigkeiten bei Kindern dienen.
Mein persönlicher Zugang:
Bei einem Pikler-Seminar, das ich vor einigen Jahren in Salzburg besuchte, gab es einen Büchertisch und dabei lag auch das Buch von André Zimpel auf. Beim Reinschmökern in das Vorwort von Prof. Gerald Hüther, einem deutschen Neurobiologen und Hirnforscher, von dem ich schon einige Artikel und Berichte gelesen hatte, entschied ich bereits nach den ersten beiden Sätzen: dieses Buch möchte ich auf jeden Fall lesen. Die Einstiegsworte, die meine Aufmerksamkeit fesselten hießen:
„Wenn Kinder nicht mehr frei und unbekümmert spielen können, so ist das ein untrügliches Anzeichen einer schweren Störung. Zu suchen ist diese Störung allerdings nicht bei den Kindern, sondern bei denjenigen Personen, die den Kindern ihre angeborene Lust am freien, unbekümmerten Spiel geraubt haben.“
Wenn Kinder spielen, so gilt das oft als bloßer Zeitvertreib. Das Spielen der Kinder soll durch frühe Bildung und Förderprogramme ersetzt werden. Wie beim Lernen glauben wir das Spiel der Kinder anleiten und fördern zu müssen, damit sie etwas lernen. Die Teilnahme der Erwachsenen beschränkt sich auf Unterrichtsstrategien und beratende Funktionen. In bester Absicht wollen wir Kinder ermutigen, anleiten, fördern, managen, herausfordern, verplanen.
Aber: Ist das wirklich notwendig??
Wie sonst gewinnen unsere Kinder Selbstvertrauen, Eigeninitiative, Ausdauer und Umsicht? Wie können sie zu glücklichen, lebenstüchtigen, selbständigen, verantwortungsbewussten Menschen und Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen? Wie können wir sie bestmöglich in ihrem Werden unterstützen?
Als Mutter von fünf Kindern begleiten mich seit Geburt unserer ersten Tochter vor über 20 Jahren genau diese Fragen: Auf welche Weise und in welcher Intensität kann und soll ich mein Kind unterstützen, um es optimal in seiner Entwicklung, Intelligenz aber auch in seiner sozialen Kompetenz zu fördern. Und wie?
Dazu habe ich viel gelesen, vor allem Bücher und Erfahrungen von Emmi Pikler haben mir dabei viele Aufschlüsse gegeben und mich auf meiner Suche hilfreich unterstützt. Eine grundsätzliche Frage, die immer wieder auftauchte, spielte dabei eine entscheidende Rolle: Welche Bedeutung hat Spielen für die kindliche Entwicklung?
DAS BUCH:
Schon zu allen Zeiten gab es Spiele und es wurde gespielt. Warum ist es gerade jetzt so wichtig, sich über dieses Thema Gedanken zu machen? Worin besteht der eigentliche Sinne des Spiels?
Der Autor stellt aufgrund zweier aktueller Tendenzen dieses Thema in Frage:
Sein erster Ansatz besagt, dass Kinder aus wirtschaftlicher Sicht immer mehr als Konsumenten entdeckt werden. Dies führt dazu, forciert durch Werbung, mit Spielzeug vollgestopfte Kinderzimmer ein vertieftes, konzentriertes Spielen unmöglich machen.
Der zweite Ansatz besteht darin, dass viele Eltern übersteigerte Bildungsansprüche haben und dadurch eine kindgemäße Entwicklung verhindern. Oft wird ein kaum leistbares Überangebot an „Bildung“, von Chinesischunterricht über Klavier- und Ballettstunden in Anspruch genommen und Kinder sind rund um die Uhr beschäftigt.
Die Thesen von Frank Zimpel gliedern sich in drei Teile:
Teil I: Spiel befreit das Denken von der Wahrnehmung
Teil II: Spiele zeigen die nächste Entwicklungsstufe an
Teil III: Spiel optimiert das Verhältnis von Aufmerksamkeit und Lernen
Im Teil I führt uns André Frank Zimpel in den Kindergarten – den Garten für Kinder, dessen Bezeichnung wir Friedrich Fröbel (1782-1852) verdanken – und hinterfragt „die Entdeckung des Spiels als Bildungswert“. Denn Fröbel erkannte wohl als erster den unvergleichlichen Wert des Spiels: „Was der Unterricht, was das Leben, die Erfahrung zeigt und lehrt, muss das Spiel, die sich spiegelnde Freitätigkeit des Inneren, des gesammelten Lebens des Zöglings wieder darstellen. (Buch Seite 14).
Obwohl er in seiner Zeit auf wenig Verständnis dieser Ansicht traf konnte er sich auf eine Autorität berufen, die schreibt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Friedrich Schiller (1759 – 1805) im 15. Brief seines Werkes: Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
Zimpel führt uns weiter über die Frage: welche Auswirkungen haben Traumatische Kindheitserfahrungen und das Beobachten von Gewalt. Der Psychiater und Psychologe Manfred Spitzer geht noch einen Schritt weiter und problematisiert in diesem Zusammenhang den zunehmend unkontrollierten Fernsehkonsum schon bei Kleinkindern:
„Das Betrachten von Gewalt ist für uns übendes Lernen wie das Betrachten von Schmetterlingen oder Blättern: Wer tausende gesehen hat, der nimmt differenzierter wahr, kennt sich aus, weiß, worauf es ankommt. Auf Gewalt im Fernsehen übertragen heißt dies kurz und prägnant: Wer Horror- und Gewaltfilme sieht, der lernt Horror und Gewalt.“ (Spitzer 2006: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg, S. 371).
Daraus resultiert die große Verantwortung der Erziehenden für das kindliche Spiel, wie es der Neurobiologe Gerald Hüther wie folgt auf den Punkt bringt:
„Unser Gehirn ist ein Sozialorgan – und es wird Zeit, dass wir es auch so behandeln. Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand der im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen. Primär sind immer die Erfahrungen, die wir in der Beziehung zu anderen Menschen machen. Und die entscheidenden Beziehungserfahrungen macht jeder Mensch bereits als kleines Kind in seiner Herkunftsfamilie.„ (Hüther 2010: Traumatischer Stress in der Familie. Göttingen, S. 13.).
Im Kapitel „Erziehen ohne Grenzen – die Macht der Rückmeldung“ finden wir die Geschichte der Lernforschung und Betrachtung von John Locke über John B. Watson, Burrhus F. Skinner (Klassische Konditionierung), sowie Studien des Anthropologen Michael Tomasello bis zur italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori und kommen so von Skinners programmiertem Lernen zum Konzept von M. Montessori „Lernen beim Tun mit dem Ziel der Selbständigkeit“ .
Ihre Formel, dass sich jedes psychische Verhalten aus einem inneren und einem äußeren Faktor zusammensetzt ist ein fast perfekter Brückenschlag zwischen Fröbel und Skinner, zwischen andachtsvoller Akzeptanz der Einmaligkeit der kindlichen Persönlichkeit und experimentell begründetem pädagogischen Optimismus.
Der Autor definiert im nächsten Kapitel „Wenn Spiel ernst ist – Geistige Nahrung für das Gehirn“ die Begriffe von Spielen, Lernen und Arbeit. Maria Montessori selbst sah die Zwanglosigkeit des Spiels nicht als eine Form des freien Spiels wie der Autor, sondern nannte das, was man als konzentriertes, ausdauerndes und selbstgewähltes Spiel bei Kindern beobachten kann „freie intellektuelle Arbeit“. William Stern, der Begründer der Differenziellen Psychologie prägte den Begriff „Ernstspiel“, als Unterschied zwischen einem entwicklungsfördernden Spiel und bloßer Spielerei und der Autor meint:
„Für die Erziehung ist das ernsthafte, entwicklungfördernde Spiel von herausragender Bedeutung. Es verbindet die Erkenntnistätigkeit mit dem Bedürfnis unseres Gehirns nach genügend interessanter Anregung von außen…“ (Seite 35).
Ein weiterer Begriff von Maria Montessori ist „die Polarisation der Aufmerksamkeit“. Gemeint ist ein Zustand der entspannten Wachheit, welcher sich mittels Magnetresonanztomografie (MRT) messen lässt.
Montessori untersuchte die intrinsische Motivation der Kinder in diesem Zustand und im letzten Kapitel des ersten Teils „Luftschlösser und Traumwelten – Welchen Wert hat das Spiel als Ersatzhandlung“ bestätigt Kurt Lewin, ein einflussreicher Psychologe, diese Untersuchung in seinen Experimenten zum Aufforderungscharakter der Dinge. Schon 1931 schilderte er seine Beobachtung über die Bedeutung der spielerischen Fantasie für die geistige Entwicklung.
Lewin lässt jedoch einige Fragen offen. Zwei davon sind: In welchen Phasen entwickelt sich die Abstraktionsfähigkeit im Spiel? Und: Wie können Erziehende diese Entwicklung unterstützen? Diese Fragen werden im Teil II des Buches: „Spiel zeigt die nächste Entwicklungsstufe“ behandelt. Im ersten Kapitel: „Ich-zentrierte Kinder – Die Balance zwischen Wunsch und Erfahrung“ führt die Reise nach Genf zu dem Schweitzer Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Mit mehr als 30 Ehrendoktorwürden war er einer der einflussreichsten Theoretiker auf dem Gebiet der frühkindlichen Entwicklung. Piaget ging es nicht nur um die Ob-Frage „Fördert das Fantasiespiel die Abstraktion?“, sondern auch um die Wie-Frage „Wie entwickelt sich das abstrakte Verständnis über den Umweg des symbolischen Denkens im Fantasiespiel?“. Und last but not least das Kapitel: „An sich, für andere, für mich – Die Zone der nächsten Entwicklung“. Der Autor führt zu den Theorien von Lew Wygotski, einem russischen Lehrer, Literaturkritiker und Kunst- und Entwicklungspsychologen, einem Bewunderer und gleichzeitig Kritiker von Piaget.
Teil III: Spiel und das Optimum der Aufmerksamkeit
Im ersten Kapitel: „Der Fantasie Flügel verleihen“ untersucht André Frank die Hinweise für die Beeinflussbarkeit unseres Gehirns durch die Stimmen anderer Personen. Er führt an, dass für das Wachstum der bei der Geburt noch unreifen Hirnregionen nachgeburtliche Erfahrungen einen großen Einfluss haben. Diese Erfahrungen sind hauptsächlich Beziehungserfahrungen mit der geteilten Aufmerksamkeit von Eltern und Kindern. Menschliches Leben ist bis zur Geburt noch auf keine Kultur festgelegt und die neurobiologische Grundausstattung Neugeborener ist kosmopolitisch. Das bedeutet eine riesige kulturelle Verantwortung und setzt Eltern enorm unter Druck, ganz zu schweigen vom sozialen Druck im Bekanntenkreis.
Dazu der Autor: „Die Angst zu versagen ist manchmal so groß, dass die verunsicherten Eltern ihre Kinder schon vor der Geburt mit Mozart beschallen und später ihrem Säugling kein Angebot vom Baby-Schwimmen bis zur musikalischen Früherziehung ersparen. Schlimmstenfalls fällt der so wichtige stressfreie und spielerische Eltern-Kind-Dialog wegen überfüllter Terminkalender in der Elternzeit aus. Dabei zeigen aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen, dass er durch nichts zu ersetzen ist. (Seite 93).
Weiters definiert und erklärt André Zimpel die Wichtigkeit und die Zusammenhänge von Objekt-, Sujet- und Rollenspiel sowie den Einfluss der Erwachsenen auf die Entwicklung der Fantasie, indem sie den Kindern praktische und verbale Hilfen anbieten, mit dem Ziel der zukünftigen Selbständigkeit.
„Trotzig oder selbstbewusst – Spielstufen und Übergänge“ behandelt die Fragen von Beziehungskommunikation und „Was steckt hinter dem sogenannten Trotzverhalten?“ und in welcher Form ist auch hier das Spiel heilbringend? Zum Körper-ICH gesellt sich ein Rollen-ICH. Der Autor beschreibt Experimente aus einem von ihm geleiteten Projekt zur Spielförderung, mit der empirisch gewonnen Hypothese, dass das Rollenspiel die Zone der nächsten Entwicklung nahelegt.
Im letzten Kapitel „Nichts weggenommen – nichts hinzugetan – Wiederholung, Aufmerksamkeit und Auffälligkeit“ zu Beginn folgende Geschichte:
„Die kanadische Entwicklungspsychologin Joan Peskin wusste, dass ihr dreijähriger Sohn Jeremy gern Plätzchen vom Küchentisch stibitzte. Eigentlich durfte er natürlich nicht auf den Schrank klettern. Einmal überraschte sie ihn dabei in der Küche. Statt sich ertappt zu fühlen, traf Klein-Jeremy folgende Anordnung: „Geh bitte aus der Küche, ich möchte mir ein Plätzchen nehmen!““ (Seite 127).
Was es mit der Geschichte auf sich hat über Studien von Piaget zur Frage der geistigen Entwicklung im spieltheoretischen Modell und die Wichtigkeit der neuronalen Netzwerke des Stirnhirns als wichtige Bedingung für die Entwicklung der Metakompetenzen lesen wir in diesem letzten Teil des Buches.
Dazu abschließend noch einmal der Autor: “Im dritten Teil habe ich die enge Verbindung gezeigt, die zwischen der Spielentwicklung und der bewussten Steuerung der Aufmerksamkeit auf Wesentliches besteht. Ohne die intrinsische Motivation, die für das Spiel so charakteristisch ist, wäre das Training einer bewussten Aufmerksamkeitssteuerung ein Kraftakt, der mit viel Drill und Frustration verbunden wäre. Im Spiel vollzieht sich diese Entwicklung nicht gegen, sondern mit der Kraft der Kinder. Dass dieser Zusammenhang in unserer oft zu einseitig an Leistung orientierten Zeit besser verstanden würde – nichts wünsche ich mir mehr.“ (Seite 142).
Meine persönliche Meinung:
Für mich persönlich ist es ein informatives und interessantes Buch. Ich kann mich dem abschließendem Wunsch des Autors nur aus vollem Herzen anschließen und es bestätigt mich (wieder einmal) in meiner Überzeugung:
„Spielen ist für Kinder der Königsweg zu Intelligenz, kreativem Denken und Freude. Ein Kind das Spielen kann, wird Zeit seines Lebens von dieser Fähigkeit profitieren.“ Joseph Chilton Pearce
Ein Kind sieht etwas, das es nicht oder noch nicht kann oder kennt. Hat es keinen Bezug, hat es auch kein Interesse. Hat es Bezug (durch Beziehung zur Sache oder vielmehr zur Person, durch die es das gesehen hat) ist der Lernimpuls so groß, dass es selbst beginnt zu forschen und zu lernen und das ist SPIELEN.
Das freie kindliche Spiel ist die Basis für harmonische Entwicklung sowie die Quelle für die leibliche, geistige und seelische Gesundheit.
Der Autor dieses Buches André Frank Zimpel, der als Professor an der Hamburger Universität lehrt und sich besonders mit der geistigen Entwicklung beschäftigt, betont die Wichtigkeit des Spielens. Er stellt seine These nicht nur in den Raum, sondern begründet seine Meinung ausführlich, nachvollziehbar und gut verständlich.
Neu an den Betrachtungen in diesem Buch sind neurobiologische Erkenntnisse, die die Bedeutung der psychologischen Wirkung des Spiels auf die Entwicklung des Gehirns belegen und ihre Auswirkung für die Bildung und Erziehung aufzeigen.
Der Autor gibt im Anschluss an jedes Kapitel eine kurze Zusammenfassung, eine Reflexion und eine Beobachtung mit entsprechenden Fragestellungen, die zum Nachdenken anregen und einen Anstoß geben, sich mit Kindern zu beschäftigen und ihr Verhalten (Spielen) zu beobachten.
So können wir unsere Kinder mit Liebe, Achtsamkeit und Vertrauen beobachten und begleiten. Vielleicht sehen wir dann, dass sie alle Fähigkeiten in sich haben und nicht angetrieben oder gefördert werden müssen. Wir selbst können dadurch viele Erkenntnisse über uns gewinnen, staunen und be-greifen um zu begreifen und gleichzeitig unsere eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahrnehmen.
Kurzbeschreibungen unserer TeilnehmerInnen der LSB-Ausbildung.